Erinnerung von Ernst Krenek

Es muss um diese Zeit gewesen sein, daß ich Karl Kraus zum ersten Mal öffentlich lesen hörte. Er las im Großen Konzerthaussaal, der ungefähr 2400 Sitzplätze hat, für die Wiener Jugend „König Lear“. Kraus füllte den Saal mühelos mit seiner phänomenalen Stimme, mehr als drei Stunden lang – und natürlich gab es 1919 noch keine Lautsprecher. Die Lesung hatte eine so starke Wirkung auf mich, wie ich sie später bei keiner Bühnenaufführung der shakespearschen Tragödie mehr erlebt habe. Kraus hatte die höchst erstaunliche Fähigkeit, seine Stimme auf so subtile und verblüffende Weise zu modulieren, daß er mühelos die Illusion von fünf oder sechs Personen im Gespräch hervorrufen konnte, ohne den Ablauf zu unterbrechen, indem er immer wieder die Namen der jeweils sprechenden Figuren genannt hätte. […] Seine Stimme besaß eine wahrhaft erstaunliche Kraft, und gelegentlich erhob er sich zu einem Aufschrei, der den Hörern kalte Schauer über den Rücken jagte. [...]

[Ernst Krenek, Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne, Hamburg 1998, zitiert nach: Friedrich Pfäfflin (Hg.), Aus großer Nähe. Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern, Göttingen 2008, 239]

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Datum: 
1998