Die roten Halbbogenplakate an den Litfasäulen zogen mich magisch an. Die fettgänzenden schwarzen Lettern hatten seit einiger Zeit Gewalt über mich. Es war wie ein geheimes Zeichen, verständlich nur den Eingeweihten, die an der Entrückung teilhaben durften: „Vorlesung Karl Kraus“. ...
Karl Kraus, das Idol, setzte sich, ohne der Unruhe im Saal zu achten – Störenfriede mussten an die Luft gesetzt werden –, an ein grünes Tischchen. Im Lichtkegel der Leselampe blitzten die Brillengläser. Mit der linken Hand stützte er den leicht zur Seite geneigten Kopf, während die Rechte mit ausholender Gebärde die Worte im Raum nachformte. Das beseelte Gesicht in ständiger Bewegung, der Mund schmal und scharf. Die metallische Stimme durchdrang das Dunkel des Saales.
[Bruno Frei, Der Papiersäbel. Autobiographie, Frankfurt 1972, zitiert nach: Friedrich Pfäfflin (Hg.), Aus großer Nähe. Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern, Göttingen 2008, 232]