Karl Kraus, der Vorleser, wird jeden, der ihn vorher nur gelesen und nicht lesen gehört hatte, überraschen. Nicht daß er anders wäre, als man ihn sich vorstellen muss – als er ist! Aber die Energie, die Konsequenz der Durchführung überbietet auch den kühnsten Vorsatz, den der Leser im Geiste seines Autors gefaßt hatte. So wenig ist dieses Pathos gegen die Skepsis der Zeit gedeckt. Kein Burgtheater würde heute diese ungebrochene Tonfülle wagen, die ein Redner ohne Bühne und Kothurn erklingen läßt. Kaum ein Jüngling würde sich von der Unbesonnenheit seiner Jugend bis zu diesem Grad der hochtönenden Behauptung hinreißen lassen. Wir Gebildeten von heute sind aus tausend Verschämtheiten und Bedenklichkeiten gebildet. Unsre innere Unentschiedenheit nennen wir Geschmack. Unser geistiges Gewissen gibt vor, keine absolute Autorität dulden zu können – auch nicht den Ton davon. Nur hier und da ein Dichter, der sich seinen Rhythmen anvertraute, als diese Rhythmen ihn eines Tages vor das Publikum trugen, fand den Mut, seiner herrischen inneren Gewißheit nicht zu widerstehen und sie – fremdartig genug! – laut werden zu lassen. [...]
Während Karl Kraus, wenn er auch, von der Lyrik mitgenommen, auch er, in musikalische Tönungen und zuletzt in den Gesang abgleitet, doch immer der exakte Sprecher ist und bleibt; die Energie des Inhalts nie verlierend; das Wesen und die Grenze der deutschen Sprache wahrend; die Konsonantenhärte, die Lautsprödigkeit, die Geistesstrenge jedes Wortes und des Satzes Sinn und Seele unverwischt behauptend [...].
Der Schauspieler Karl Kraus darf nie die Diktion sprengen; er darf sie nur mimisch beleben und bereichern. Und alles Unmaß, alles Übermaß – denn Kraus hat, wenn seine Sprachgewalt entfesselt ist, nie genug; seine Steigerungen lassen die Fassungskraft des Hörers oft hinter sich, und seine Stimme kann immer noch, wenn das Ohr längst nicht mehr kann – findet stets zum Maß der kräftigen Sprache zurück. Ein durch berufsmäßige Theatergeherei innerlich abgetöteter Kritiker mag bei solchen Gelegenheiten nicht übel Lust verspüren, diesen Unband von einem Sprecher, dessen Wort unaufhaltsam durch und durch zu dringen entschlossen ist, vom Podium herunterzuschießen. Der echte Hörer gibt sich schließlich dem tyrannischen Sprachwillen hin und läßt sich gern besiegen, wo so entscheidend für den Geist und mit dem Geist gerungen wird. [...]
Da zeigt sich, als ein wesentliches Merkmal des Anti-Journalisten, seine starke Polarität zum Publikum. Kraus darf dem Publikum alles ins Gesicht sagen. Er sagt es so, daß der überzeugte Anhänger für ihn zittert: das Publikum ist beseeligt. [...]
[Berthold Viertel, Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit, in: Berthold Viertel, Dichtungen und Dokumente. Gedichte – Prosa – Autobiographische Fragmente, hrsg. von Ernst Ginsberg, München 1956, 270-273.]