683. Vorlesung am 19.03.1935

Wien
19.03.1935

[Karl Kraus las im Kleinen Musikvereinssaal am]

19. März:

Zum ersten Mal

Liebesgeschichten und Heiratssachen 
Posse mit Gesang in drei Akten von Johann Nestroy, eingerichtet von Karl Kraus

(Mit Vorbemerkung über die nach Angabe des Vortragenden improvisierte Musik und die Zutat der gesanglichen Aktschlüsse)

[Die Fackel 909-911, 05.1935, 4] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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THEATER DER DICHTUNG

Zum ersten Mal

Liebesgeschichten und Heiratssachen Posse mit Gesang in drei Akten von Johann Nestroy, eingerichtet von Karl Kraus

(Mit Vorbemerkung über die nach Angabe des Vortragenden improvisierte Musik und die Zutat der gesanglichen Aktschlüsse)

Erstaufführung am 23. März 1843 im Theater an der Wien zum Vorteile Nestroys

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Begleitung: Franz Mittler

Zwei Pausen

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Die sich weit in die Gegenwart erstreckende Beschränktheit der vormärzlichen Theaterkritik scheint an dem Prachtwerk, das einer der größten Erfolge des Dramatikers und Schauspielers war, das Wagnis einer Verspottung des Adelsstolzes (Marchese Vincelli) bestaunt zu haben. Ein Nachgeborner, dessen Beziehung zu Nestroy in der Sammlung von Theaterzetteln besteht, die er dann fehlerhaft zitiert, meint in dem Geleitwort zu seiner Ausgabe (die Luxus war):

Bedeutend und wichtig ist die Posse »Liebesgeschichten und Heiratssachen«. Hier hat Nestroy zum ersten Male ein Thema angeschlagen, welches den späteren Sittenschilderer erkennen läßt: die soziale Kluft zwischen Volk und Adel bildet den Vorwurf der Posse. Der Volksdichter Nestroy steht auf Seite des Volkes, und macht die Gegenseite lächerlich. Man sieht ihm die Freude am Thema an, auf das er im »Unbedeutenden«, vielleicht seinem bedeutendsten Werke, wieder zurückgreift.

Ein Konnaisseur! Es ist ja leider wahr, daß die Zeitgenossenschaft Nestroys, vor allem die berufskritische, keine Ahnung davon hatte, daß seine Sprache als solche, ganz jenseits irgendwelcher entlehnten Stoffe und nichtvorhandenen Tendenzen, von allem Anfang an und nicht erst später, »Sittenschilderung« enthielt, mehr als der ganze Anzengruber, in dessen Nähe man ihn schließlich getrieben hat. (Wäre er selbst für Sprachtaube nicht schon im »Lumpazivagabundus«, im »Notwendigen und Überflüssigen«, im »Talisman« Sittenschilderer gewesen?) So richtig es nun ist, daß in dem gar nicht so bedeutenden »Unbedeutenden« einer das Herz auf dem rechten Fleck hat und darum mehr zu den Herzen sprach, als die spirituellste Durchleuchtung des Menschentums in jedem Satz der durchgefallensten Posse, so phantasievoll ist die Ansicht, daß in den »Liebesgeschichten und Heiratssachen« Nestroy auf irgendeiner »Seite« und gar der »des Volkes« gegenüber einer lächerlich gemachten »Gegenseite« stehe. Lächerlich ist wohl jede Seite gemacht, aber ganz bestimmt die andere, die ehemals fleischselcherische des Herrn von Fett, während sein aristokratischer Widerpart sich zum Schluß eher von der »menschlichen Seite« zeigt. Nestroy, der die zeitgenössischen Flachköpfe immer vor das Problem gestellt hat, ob er mehr »Reaktionär« oder »Revolutionär« sei — anstatt daß sie den Bau seiner Sätze besichtigt hätten —, hat sie gewiß durch seine »Widersprüche« verwirrt. Klar aber müßte heute sein, daß es in diesem Stück überhaupt fast nur eine Art Volk gibt: solches, das vor dem Adel kriecht; und daß der Inhalt nebst »Tendenz« der entzückenden Posse am besten durch die Nestroyschen Coupletverse wiederzugeben wäre:

Mit zehn Fürsten und Grafen red’t man leichter ganz g’wiß, Als mit ei’m Flecksieder, der Millionär worden is.

Das kommt in der »reaktionären« Posse »Lady und Schneider« vor, die freilich auch die endgültige Antwort auf die Prüfungsfrage enthält: »Sagen Sie mir, was ist das Volk?« (nämlich das sich erhebende):

Das Volk is ein Ries’ in der Wieg’n, der erwacht, aufsteht, herumtorkelt, alles z’sammtritt und am End wo hineinfallt, wo er noch viel schlechter liegt, als in der Wieg’n.

Und er hat auch schon geahnt, daß der Übel größtes die Existenz jener sei, die sie durch Ausbeutung solcher Suchtfristen, eine Ausbeutung, die nicht minder schandbar ist als die, gegen die sie das Volk zu schützen vorgeben.

Der bessere Nestroy-Kenner Otto Rommel, der eben in dem allseitigen Mißverstehen Nestroys das Problem des Satirikers erkannte, hat das Verdienst, zu der leider philologisch überladenen und buchtechnisch eher hantigen als handlichen Gesamtausgabe (bei Schroll) wertvolle textliche Wiederherstellungen und seine eigenen Essays beigetragen zu haben (so daß das Ganze, wofern man es jeweils halten kann, doch mit der neueren Raimund- Ausgabe nicht zu vergleichen ist, an der, von einigen interessanten Funden abgesehn, lediglich Sammelwut und künstlerische Ahnungslosigkeit, nebst der höheren Mathematik der Hinweise, mitgewirkt haben). Wichtiger freilich als neun Zehntel der »Erläuterungen« — wie etwa die zweifelhafte Etymologie des Affennamens »Mamok« oder das verläßliche Rezept für die Zubereitung einer »Bavaroise« — wäre, daß dem philologischen Aufwand und dem memorialen Aufheben, welches mit dem Anspruch auf Vollständigkeit sie doch niemals erzielen könnte (und wie es selbst an Shakespeares oder Goethes Werk und Leben verschwendet erscheint: indem es ja keinen Schöpfer geben kann, bei dem es nicht ausschließlich auf das Wesentliche ankäme), wichtiger wäre also, daß derartiger Mühsal (für Autor wie Leser) wenigstens die tätliche Fortsetzung folgte: in dem Protest gegen die Schändung eines so leidenschaftlich betreuten Textes durch Theaterspekulanten, in dem Versuch, einen Kulturrat zu legislativem Einschreiten zu bewegen. Dänemark ist mit dem Hamlet durch nichts als durch das Moment verbunden, daß etwas faul ist und sein angebliches Grab den Hotelgästen von Marienlyst bei Helsingör für ein Trinkgeld vom Portier gezeigt wird; aber nach einer Aufführung in Kopenhagen hat der »Minister für Erziehung« erklärt, »daß es sich hier um eine Verschandlung von Shakespeare handle«. Der Umstand, daß Herr Lustig-Prean es ist, der diese einem in Österreich gewachsenen Klassikerwerk angedeihen ließ, sollte die amtlichen Kulturfaktoren keineswegs wie die einer gewissenlosen Presse zur Indulgenz stimmen.

Das Verlangen, daß da etwas geschehe, jedenfalls für die Zukunft vorgekehrt und ein Handwerk nicht gefördert, sondern gelegt werde, ist der Wunsch nach Schadloshaltung Nestroys und darum berechtigter als die Ironie, die der vorzügliche Nestroy-Forscher gegen ein berechtigtes Verlangen des damaligen Theaterpublikums aufbietet, indem er sagt:

Bezeichnend für die Mentalität der Zeit ist der mehrfach ausgesprochene Wunsch nach einer Schadloshaltung des Intriganten Nebel, den sein Schöpfer selbst im Schlußwort so schneidend beurteilte.

Diesen Wunsch entnimmt Rommel einer Kritik, die ausnahmsweise, und ohne zu wissen warum, Recht hatte. Die »Mentalität der Zeit« ist die des Theaterpublikums aller Zeiten,
dem zwar Sprachwunder unerschlossen bleiben, dessen Bedürfnis nach dem »guten Ausgang« aber einem Instinkt entspricht, der einer metaphysischeren Auffassung der Theaterwirklichkeit gemäß ist als der moralisierende Wille, der einem wurstfingrigen Parvenü mehr Glück zuteilt als dem Spitzbuben, der ihn beschwindelt hat. Beide haben sich durch Humor ihren Lohn verdient. Die Meinung, daß die Worte einer Liebhaberfigur: »So sollt’s jedem gehn, der usw.« die »schneidende Beurteilung« Nestroys selbst seien, ist irrig; umso irriger, als sie gar nicht das Schlußwort bilden, sondern der Filou noch seinen pointierten Abgang hat. Auf diesen kam es Nestroy an, der aber die Tirade beibehalten konnte, ohne den »Nebel« sich verziehen zu lassen. Kein Plan, bloß Theaterzufall, und kein glücklicher. Wozu denn der ganze Aufwand an kostbarer (von der Kritik beanstandeter) »Unwahrscheinlichkeit«, wenn sie so seriös enden soll? Wie so oft, wollte das ungeduldige Genie zum Ende kommen, mochte auch aller Geist darein versacken (wenn nicht, wie noch öfter, lange vor dem Ende die Handlung zerflattert war). Es sind keine erheblichen, keine aufhebenswerten Werte. In der Welt der Posse und zumal dieser transzendenten Lustigkeit, die alles Psychologische und alles Moralisierende tief unter sich läßt, ist solche Verdammnis unmöglich; der Taugenichts, dem man doch all den erkenntnis- vollen Witz verdankt, kann nicht blamiert davonschleichen und dem Hörer die Vorstellung des Weges vom Familienhaus übers Wirtshaus ins Zuchthaus hinterlassen, während die Spießbürger, zwei Heiratssachen umgebend, ausrufen: »Ja, ein Freudenfest sei der heutige Tag!«. Das ist der Schluß des Werkes, das einen so einzigartigen Dialog hat: beiläufig und öde wie die vorher- gehenden Aktschlüsse. Titus und Faden (der seinem Schöpfer zuweilen ausging) werden entschädigt, Knieriem und Zwirn im Handumdrehn durch den Eingriff einer höhern Macht geläutert. Solche besitzt der satirische Genius selbst, der keineswegs eine sittenrichterliche Absicht verfolgte und bloß nicht, in seiner unleugbaren Saloppheit, die Auskunft fand — den für die Posse notwendigen guten Ausgang —: den Nebel gerade durch die Heirat mit seiner Lucia Distel zu strafen. Der Schauspieler Nestroy mag sich in einer glänzenden Rolle unbehaglich gefühlt haben, die ihn zwang, die Szene vor dem Ende zu verlassen und in der »allgemeinen Gruppe« erst zum Hervorruf zu erscheinen. Ebenso unbegreiflich, daß sich die Auferstehung des Totgeglaubten und gar ein Hinauswurf bei Nestroy ohne Chor vollziehen soll. »Nein, das laß ich mir nicht nehmen,« sagt der Herr von Fett, »ohne Hinauswerfen hat das Ganze keine Kraft«; doch es geschieht erst nach Noten, wenn dazu noch gesungen wird. »Im Orchester fällt die Musik ein«, aber leider sonst nichts dem Autor, und auf dem Vortragspodium, ohne Vorhang, wär’s ein gar zu dürftiger Einfall zum Abgehen; das Ende des unvergleichlichen Werkes ist vollends so geraten, als ob der lebendigste Autor auch geistig nicht mehr anwesend wäre. Es ist durchweg unerläßlich, mit ein paar Sätzen und Strophen Nestroy’scher Sprachbildung Aktschlüsse zu füllen, über deren Leere das Theater zur Not mit dem musikalischen Lärm hinwegkommt. Für den Nestroy- und Theaterkenner könnte doch gar kein Zweifel bestehen, daß der Erfolg durch die typischen gesanglichen Ausgänge noch verstärkt worden wäre. Ein gefühlsmäßig eindringlicher Schlußton wie in eigentlichen Charakterkomödien (im »Talisman« oder in der Bearbeitung des »Notwendigen und Überflüssigen«) mag des Chors entbehren; hier aber sind Ergänzungen notwendig. Die sonstige Einrichtung hat sich auf kleine Striche beschränkt und auf eine Auswahl der Fassungen aus der Chiavacci-Ausgabe und der hier im allgemeinen bessern Urtextierung bei Rommel, die auch das schöne Couplet des II. Aktes enthält. Die »Bearbeitung«: Streichung oder Ergänzung, erfolgt mit dem gleichen künstlerischen Recht wie bei Shakespeare, dessen peinlichen »Pandarus«-Abschied etwa, in »Troilus und Cressida«, zu erhalten und nicht zu ersetzen unvorstellbar wäre. Möge diese Erlaubnis nicht mit dem Anspruch des Dilettantismus verwechselt werden, in Nestroy’s »Talisman« die Gedanken gegen Girls auszuwechseln.

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