679. Vorlesung am 27.01.1935

Wien
27.01.1935

[Karl Kraus las im Mittleren Konzerthaussaal am] 27. Januar:

Lumpazivagabundus 

Mit den Extempores der alten Theatermanuskripte und dem Entree des Leim (Text von Nestroy, Musik von Suppé, 1856); das Kometenlied erneuert.

[Die Fackel 909-911, 05.1935, 3] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...]

THEATER DER DICHTUNG

Der böse Geist Lumpazivagabundus

oder

Das liederliche Kleeblatt

Zauberposse mit Gesang in drei Akten von Johann Nestroy

Musik von Adolph Müller sen.

[...]

Begleitung: Franz Mittler

Das Kometenlied ist erneuert.

[...]

Die Erstaufführung im »Theater in der Leopoldstadt« hat am 11. April 1833 stattgefunden (gerade hundert Jahre bevor ein anderes Kleeblatt in einer Welttragödie auftrat). Nestroy gab den Knieriem, Scholz den Zwirn und Carl den Leim, die Rolle, in der der junge Sonnenthal in Graz neben Nestroy stand und von ihm als »Kunsttischler« belobt wurde. Gämmerler gab die Titelrolle (später den Leim), die Dlles. Zöllner und Weiler die Töchter Palpiti. (Ad vocem humanam Sonnenthal: sein hundertster Geburtstag wurde kürzlich von der ganzen Presse mit vorbildlicher Ignoranz gefeiert, mit Ausnahme des unabhängigen Tagblatts für das christliche Volk, das den großen Schauspieler des Kaisers bloß ignorierte; vielleicht weil dem Herrn Bretschka der Tragöde Reinhold bodenständiger vorkommt.)

*

Aus dem »Wanderbuch eines verabschiedeten Landsknechtes« von Fürst Friedrich Schwarzenberg (Wien 1844—48):

— — Ich halte diesen Nestroy für eine unserer merkwürdigsten dramatischen Erscheinungen, sowohl als Dichter wie als Schauspieler. Es liegt in seinen Erzeugnissen nicht allein eine tiefe Bedeutung, sondern auch der wahre, kräftige Geist des Volksstücks!— — in Nestroy lebt ein wirklich Shakespearescher Geist,-Humor und Witz. — —

Wenden!

— — mir hat kein Lustspiel mehr Stoff zum Denken gegeben, als »Ebene Erde und 1. Stock«, der klassische Lumpazivagabundus, und der Talisman. Nach meiner Ansicht ist Nestroy demnach nicht allein jetzt, sondern im Allgemeinen ein echter Volksdichter, und ich bin überzeugt, daß die Zukunft mein Urtheil bestätigen, und ihm einen ausgezeichneten Platz unter den dramatischen Notabilitäten Deutschlands anweisen wird. Waren ja selbst der große Shakespeare und Molière Komödianten, auf welche die damalige vornehme Welt mit Mitleiden herabsah; allein Shakespeare’s Genius schwebt unsterblich über der Bühne, welche er heiligte, und der Philosoph, welcher einen Tartüffe zeichnete, wird unvergeßlich bleiben, wenn längst die flachen, wässerigen Leistungen seiner damals viel höher geschätzten Kollegen sich im Laufe der Zeit verdünstet haben werden.

*

Aus der ‚Fackel‘, März 1925, über das Entreelied des Leim, dessen Text und Musik sie als Erstdruck veröffentlichte:

— — Nun wird mir eine freudige und rührende Überraschung zuteil und es ist, als ob Nestroy selbst mit einer zurechtweisenden Gebärde, welche die Theatergenerationen verbindet, dem Unfug, der im Burgtheater an dem II. Akt verübt wird, wehren und seiner Gestalt zu der Singstimme verhelfen wollte, die ihr gebührt, und eben dort, wo sie ihr gebührt. Der Leim hat in der Festaufführung des »Lumpazivagabundus« im Jahre 1856 tatsächlich ein Entreelied gesungen und zwar im ersten Akt, so daß er sich von Knieriem und Zwirn in der Art des Auftretens nicht mehr unterschied. Der Altwiener Komiker Gämmerler, dessen Namen als des zweiten Darstellers der Figur (nach Carl) ich schon auf einem Programm des Theaters in der Leopoldstadt vom 25. Juli 1841 finde und der in hohem Alter Ende der 80er Jahre starb, hat es kreiert. Er hatte Nestroy, wie mir mitgeteilt wird, »wochenlang ‚gebenzt‘, ihm ein solches Entreelied zu schreiben, bis Nestroy eines Tages während einer Probe in seiner Garderobe binnen einer Viertelstunde das Lied niederschrieb«, das in jener Festaufführung und wohl auch später noch zum Vortrag gelangte. Gämmerler hat nun dem jungen Kollegen Carl Lindau, der später im Theater an der Wien gewirkt hat und dessen Name mir mit der lebendigen Erinnerung an die letzten guten Zeiten dieser Bühne verknüpft ist (Anm.: Der treue Bewahrer echter Theaterschätze ist selbst vor kurzem in hohem Alter gestorben), im Jahre 1871 erlaubt, eine Abschrift vom Leim-Lied zu nehmen, das ein Unikum ist wie die Musik, die von Franz v. Suppé stammt und die der ehemalige Schauspieler mir mit den Versen zum Abdruck in der Fackel widmete. — — Das Tischlerlied vervollständigt, namentlich im wehmütigen Humor der sprachlich erfüllten zweiten und dritten Strophe, die Valentin-Ähnlichkeit der Gestalt.

---

Wiener Leben

(aus dem Programm zu »Pariser Leben«, vervollständigt)

Offenbach-Renaissance

Eine gutlaunige, spritzige, in Soli- und Ensemblegestaltung flotte Aufführung wurde unter der vortrefflichen Regieleitung Direktor Lustig-Preans geboten. — — wozu unzählige Extempores mit gefälligem Währinger Anklang wesentlich beitrugen. Dr. De la Cerda als musikalischer Leiter — allen Situationen gewachsen — bot bekannte, aber immer wirkungsvolle Offenbachsche Musik, leicht, sprühend, rhythmisch.

Der lustige Abend in lustigster Göttergesellschaft fand vielen Beifall eines ausverkauften Hauses.

—  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  — 

Direktor Lustig-Prean hat dem »Orpheus in der Unterwelt« eine echt wienerische Note gegeben. Gemütliche Familienaffären zu ebener Erd’ und im ersten Stock, sogar im Tiefparterre. Die Beherrscher des Olymps und der Unterwelt sind jenseits des Gürtels zu Hause, sie sprechen den urwüchsigsten Dialekt himmlisch und höllisch und überhaupt die Götter — — Sie gefielen, denn im Olymp und im Hades geht es urfidel zu, Theodor Waldau, ein geübter Offenbachant, hat dazu den Text mit Witz und Witzen aktualisiert, und das Volksopernpublikum, das in Scharen zu Offenbach strömte, unterhielt sich über die plutonische Liebe einer gewissen Frau Eurydice aus Theben, die einen sehr bewegten Lebenswandel in drei Stockwerken führt, ausgezeichnet.

Man muß aber doch auch der Offenbachschen Musik einigen Anteil an dem Erfolg zubilligen. Sie ist zwar nicht immer wienerisch genug, aber sie machte  die Zuhörer recht kribbelig, als ob sie einen Schampus getrunken hätten. — —

Pluto-Girls, die teuflisch den Cancan tanzten, belebten die Unterwelt — —

Der stürmische Erfolg, den das bis auf den letzten Platz besetzte Haus dem »Orpheus« bereitete, verheißt der Volksoper eine Offenbach-Renaissance.

Zwei Beethoven

Wie wir schon einmal mitgeteilt haben, soll in nächster Zeit unter der Regie Richard Oswalds ein Beethoven-Film gedreht werden. Gerüchtweise verlautete es hiebei, daß Fritz Kortner die Rolle des Beethoven übernehmen sollte. Die Zweifel, die darüber entstanden, haben sehr bald dazu geführt, daß nunmehr mitgeteilt wird, Ewald Balser sei eingeladen worden, den Beethoven zu spielen. Bestimmte Vereinbarungen sind diesbezüglich noch nicht getroffen worden.

Goethe

— — hat sich Staatsoperndirektor Dr. Felix von Weingartner in liebenswürdigster Weise bereit erklärt, eine Vorlesung  aus Goethes »Faust«, zweiter Teil (Bühneneinrichtung und Musik von Dr. Felix Weingartner), zu halten. Am Flügel Elly Katzigheras. — —

—  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  — 

Für 1 Uhr mittags hat dann Direktor Weingartner die Wiener Presse zu sich gebeten, um sie über seine bevorstehende »Faust«-Vorlesung und auch über seine Pläne in seiner Eigenschaft als Opernchef zu informieren.

—  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  — 

— — Weingartner erzählte anläßlich eines kleinen Empfanges über die Genesis seiner Vorliebe für Goethes »Faust«, den er direkt sein Steckenpferd nannte, allerlei interessante Dinge.

Es war zu Basel, als Weingartner einleitende Erläuterungen gab zu einem Vortragsabend, den ein »Faust«-Rezitator veranstaltete. Bei dieser Gelegenheit ergab es sich von selbst, daß er auch Stellen aus dem Werke zu zitieren hatte. Dabei gewannen die begeisterten Zuhörer den Eindruck, daß Weingartner, was ihm bis dahin selbst nicht bekannt war, nicht nur die Kunst des Dirigierens, sondern auch die des Rezitierens in hohem Maße besitze. Weingartner ließ es aber nicht bei der Verehrung seines Lieblingsdichters bewenden. — —

Die künstlerischen Vorbereitungen

zum »Pfeif’ o Glock’ auf der Alm«, dem Schlaraffenball in den Sophien-Sälen am 31. d., sind im vollen Gang. Näheres in den Einladungskarten, die demnächst zur Versendung gelangen.

Meister der Operette

Das unter dem Titel »Meister der Operette« von den Wiener Philharmonikern ausgeführte Konzert, das am 22. d. im großen Musikvereinssaale stattfindet, weist ein besonders reichhaltiges Programm auf. Es werden als Dirigenten ihrer eigenen Werke die Operettenkomponisten Paul Abraham, Emmerich Kalman, Robert Stolz, Oskar Straus und Richard Tauber erscheinen. — — Kapellmeister Hugo Reichenberger bringt einige Werke Franz Lehars — —

—  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  — 

Die Wiener Philharmoniker, die, von Stolz angefeuert wie von einem feschen Militärkapellmeister, »Hallo, du süße Klingelfee« oder »Adieu, mein kleiner Gardeoffizier« spielen, das ist gewiß nicht alltäglich — — Abraham .. verwendete zur Steigerung des »Ball im Savoy« auch einen Chor, wie Beethoven bei der Neunten — —

—  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  — 

Felix Weingartner, aus dem Direktionszimmer der Oper auf eine halbe Stunde ins Operettenkonzert der Wiener Philharmoniker übersiedelt, vereinigte sich gestern — eine ungewöhnliche Pikanterie — mit Emmerich Kalman, Robert Stolz, Oskar Straus und Abraham am Dirigentenpult im Musikvereinssaal, um den Meistern der Operette zu huldigen. Sonst waren es gestern meist ältere tantiemenbeleibte Herren, die am Pult erschienen, um die populärsten Kinder ihrer Muse dem Publikum persönlich vorzuführen und sich bei dieser Gelegenheit — es ist nicht ihr Ressort — auch im Dirigieren zu üben.

— — die Philharmoniker erreichten — was ihnen sonst nicht oft gelingt — daß das Publikum gut gelaunt in die Melodien einstimmte und ungeniert die Orchestermusik verstärkte.

Aus der großen Zeit des Theaters an der Wien

Unsere Betty Fischer ist in Wien! Und die ist sie geblieben, das versichert sie beim ersten Wort des Gespräches. »Seit vierzehn Monaten war ich nicht in Wien. Das kann ein echtes Wiener Kind nicht aushalten. Ich laufe in der Stadt herum und suche alle Straßen und Plätze auf, die mir so vertraut sind. Und beim Ste- phansplatz muß ich ganz laut ‚Mein lieber, alter Steffl‘ rufen. Und viele Menschen kennen mich noch und begrüßen mich so lieb und nett. — — Ich bin nur als Privatperson in Wien. — — Es war die herrlichste und schönste Zeit meines Lebens. Ich möchte schon einmal wieder meinem Publikum zeigen, daß ich noch da bin und daß ein schöner Kalman oder Lehar auch heute noch vierhundertmal gespielt werden kann. Aber der ‚Nachwuchs‘, die heutigen Fachleute wollen davon nichts wissen. — — Das Publikum .will heute wie damals schöne Melodien, ein sinnvolles Textbuch. — — Das ist meine feste Überzeugung.«

[...]