[Karl Kraus las im Mittleren Konzerthaussaal am] 9. Januar:
Blaubart
[Die Fackel 909-911, 05.1935, 3] - zitiert nach Austrian Academy Corpus
Programmzettel
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THEATER DER DICHTUNG
Blaubart
Operette in 3 Akten (4 Bildern) von Jacques Offenbach
Text von Meilhac und Halévy, nach Julius Hopp bearbeitet von Karl Kraus
(Erstaufführung im Theater an der Wien am 21. September 1866)
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Nach dem 1. und dem 2. Bild eine längere, nach dem 3. eine kurze Pause.
Begleitung: Franz Mittler
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In Prag, dessen Theaterkräfte meinen Entschluß befestigt haben, die Offenbach-Renaissance mit Bedauern zurückzuziehen (und der Verdi-Renaissance, die dortselbst ihren Ursprung hat,
freien Lauf zu lassen), haust ein gewisser Renato Mordo, der kein Pseudonym sein soll und dem der Schlaraffe Eger — nach Gyimes, Reinhardt und Röbbeling »mit« einer der stärksten Aufmischer heutigen Bühnenwesens — Offenbach zu beliebiger Verwendung über- lassen hat. Da besagter Mordo demnächst auch in Wien (Volksoper) seine Künste vorführen soll, dürfte es, wofern nicht eh alles wurst ist, angezeigt sein, auf das Schnippchen hinzuweisen, das er dem Blaubart für sein Verhalten gegen die Frauen geschlagen hat, die es in der »Femina« von Natur aus viel besser hätten. Man erfährt darüber einiges durch das ‚Prager Tagblatt‘, welches direkt unter Olla die Haltbarkeit nebst Feinheit jener klassischen Operette preist, indem der Redaktionschrist, der mir seinerzeit wegen der Madame l’Archiduc Ratschläge erteilt hat, der Offenbach’schen Musik Witz, zündende Laune und insbesondere »Schmiß« nachrühmt, also ungefähr das, womit ich mich revanchiert habe.
Der Musik-Geist von »Hoffmanns Erzählungen« kündigt sich hier bereits an, gleichsam sich selbst apollinisch verspottend — noch vor der Geburt.
Warum nicht dionysisch? Das macht aber nichts, wesentlich ist, daß Mordo — offenbar weil er schon so heißt, schlaraffisch orientiert — »Blaubart« auf einer Schmiere spielen läßt, in der Art der Innsbrucker Bradlschen Bühne — —. Der Direktor, die Frau Direktor, die Töchter des Direktors wirken mit, die eine Tochter macht schlechthin alle kleinen Funktionen, vom Ballett bis zur Windmaschine; freiwillige Feuerwehrmänner, jammervoll-köstlich als Höflinge kostümiert, sind der Chor. Die haargenaue Kenntnis des Schmierenmechanismus, aus der sich so viel erheiternde Nebenwirkungen ergeben, stimmt ahnungsvoll gegenüber den beruflichen Anfängen unseres ausgezeichneten Regisseurs Mordo … Die ein wenig weitschweifigen Prosaszenen sind in kurze Knüttelvers-Dialoge aufgelöst, am übrigen ist nichts geändert, die Musik nur um Unwesentliches gekürzt. Man darf dieser Bearbeitung, die sich als höchst wirksam erwiesen hat, zustimmen; sie lenkt vorübergehend von der Musik ab, doch ist das kaum zu vermeiden ....
Doch, doch, wenn eine kulturell interessierte Gesetzgebung für Vergehen gegen autorrechtlich nicht mehr geschützte Kunstwerke Arreststrafen nebst Rückverweisung in die beruflichen Anfänge statuierte. Vor dem, was sich da in Prag getan hat — die österreichische Ausgabe des feschen Blattes brachte aus Vorsicht zwar Olla, aber nicht das Referat —, vor diesem Exzeß einer Offenbach-Schändung zeigte selbst die ‚Bohemia‘ etwas Schamgefühl, indem sie feststellte:
Renato Mordo liefert seine Offenbach-Bearbeitungen schon fabriksmäßig. Nach den Einaktern, die bisher daran glauben mußten
(und die eben nach Wien kommen sollen, darunter die unvorstellbar zugerichtete Lieblichkeit der »Insel Tulipatan«)
nimmt er jetzt ein abendfüllendes Werk her, den mit Recht zu Offenbachs besten Stücken zählenden »Blaubart«. Für ihn ist auch dieses Werk nichts als Parodie, obwohl gerade im »Blaubart« an mehr als einer Stelle Ernst und Ironie scharf auf der Schneide stehen und mit lyrischen Schönheiten ein Grad der dramatischen Charakteristik Hand in Hand geht, der dem wirklichen Offenbach-Kenner nicht entgehen kann. Was liegt aber Herrn Mordo, um nur zwei Beispiele zu nennen, an dem ergreifenden Kantabile des Blaubart, das der Antonia-Musik aus »Hoffmanns Erzählungen« vorklingt, was liegt ihm an den musi- kalischen Schönheiten des Duetts zwischen Blaubart und Boulotte in der Gruft-Szene? Er parodiert ausnahmslos und schafft sich ein theatermäßig praktikables, aber künstlerisch bedenkliches Alibi, indem er die ganze Aufführung in den Rahmen einer Schmierenkomödie stellt. Diese »Entzauberung« des Theaters mag manchem Ulk förderlich sein, aber sie leidet in diesem Falle an einem Kardinalfehler: sie ist überflüssig. Immerhin ist anzuerkennen, daß die Musik (von Strichen abgesehen) in ihrem Organismus unberührt bleibt, und sie wäre ganz unverfälschter Offenbach, wenn davon abgesehen würde, die Sänger operistischen Unfug treiben zu lassen. Warum soll denn die rhythmische Schwungkraft, die melodische Leichtigkeit der Couplets, die klangliche und harmonische Vielfältigkeit all der Schauer-Chromatik und Grusel-Akkordik auf einmal nicht durch sich selber wirken? … Zur Wertung von Einzelleistungen gibt die Aufführung keinen Anlaß: sie stehen alle unter dem Zwang der Regie, die sich .. mit Komödiantenwagen und Spielpodium ein ihren Zwecken entsprechendes Bühnenbild machen läßt und auf keinen noch so abgegriffenen Kulissenscherz verzichtet. Die Damen .., die Herren .. treiben zu Offenbachs Musik Mordosche Allotria. Und der Erfolg? Er wäre um nichts geringer bei einer unparodierten, in Satire, Komik und Besinnlichkeit ausgeglichenen Wiedergabe.
Das kann man für Prag nicht wissen. Dort, im Schlaraffenland, brauchen sie immer, zum Zweck von »ausvrkauft!«, etwas Zugkräftiges, weshalb denn auch Meister Pirchan, der Bühnenbildner, auf die Idee verfiel, meine Herberge della conspirazione permanente mit rosa Herzerln zu versehen und sudetischen Sinnsprüchen wie: »Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang usw.«, die ich freilich sofort durch eine Putzschar entfernen ließ. Mordos Beweggründe sind dunkel; er scheint, seit ich einst aus Furcht vor seinem Namen die Annäherung abwehrte, einen Pick auf Offenbach zu haben. Jedenfalls tut er des Guten zuviel: er läßt den »Blaubart« auf einer Schmiere spielen, wie- wohl die Aufführung ohnedies im Prager Deutschen Theater stattfindet.
Über die Unmöglichkeit einer Aktualisierung der Offenbach-Texte in der Welt der Hitler und Stalin (obschon in dessen Bereich Offenbach bei entsprechender Verhunzung genehmigt ist) geben die Programme vom 1. Dezember (Madame l’Archiduc) und 5. Dezember (Perichole) Aufschluß. Ihre Zeitwidrigkeit in dumpfen Tagen macht sie zeitgemäß, denn in jedem der Klänge, zu denen sie überleiten, ist mehr Menschlichkeit als in sämtlichen sozialen Heilslehren, deren Opfer erbarmungswürdig, deren Nutznießer erbärmlich bleiben. Der Versuch, über den persönlichen Anreiz des »Wiederauftretens« hinaus, einer weiteren Öffentlichkeit das »Theater der Dichtung« statt des andern Theaters schmackhaft zu machen, scheint fehlgeschlagen, da sich für Shakespeare, Offenbach und deren geistige Vermittlung in ganz Wien kaum mehr als dreihundert Menschen interessieren dürften. Und doch sind es Vorstellungen, durch die, wenn sie täglich stattfänden, eine Erkrankung abgesagt werden könnte und die wegen Unpäßlichkeit des Vortragenden stattzufinden hätten. Er hat sich zwar noch nie gehört, aber nach mancher Aussage dürften die Zahllosen, die in der gleichen Lage sind und bleiben wollen, ihr Lebtag nicht mehr erfahren, was Theater ist, vor allem nicht die Fachleute, also weder Dilettanten noch die Ignoranten, die berufen sind, ihnen die öffentliche Meinung zu machen. Daß das Ensemble des »Theaters der Dichtung« lieber verstummte als sich von solchem Kaliber, das sonst eingeladen wird, die Fähigkeit bestätigen zu lassen, weiß man. Ist es aber vorstellbar, daß lebende Zeugen verschwundner Theaterpracht deren volle Wiederherstellung durch die Einzelstimme bekunden, und kein Glied der kulturellen Repräsentanz dieser Stadt in zwanzig Jahren jemals den Mut aufgebracht hat, sich privatim davon zu überzeugen? Daß das Kulturpack durchhaltend vorzieht, mit den Eindrücken des heutigen ernsten und heitern Theaters sich und die Leser zu beschummeln? Auf solche, die »andere Sorgen zu haben« als alleinigen Denkinhalt eines schäbigen Zeitalters festgelegt wünschen, wird nicht minder gern verzichtet. Dem Intelligenzler, der die Nachbarschaft einer Vorlesungsannonce und einer Krupnik-Annonce unter dem Motto »Weit gebracht!« vermerkt (als ob man im Weltall und in der Arbeiter-Zeitung jemals solcher Nähe hätte entgehen können und als wäre die Bezahlung der Presse das odiöse Moment); dem anonymen Freidenker, der sich erlaubt hat, zu dem Namen »Perichole« ein »Kusch!« zu klecksen, ist man auf der Spur. Nein, man wird, solange man andere und sich selbst mit künstlerischen Gaben erfreuen kann, aus Respekt vor Briefschreibern nicht kuschen, deren »eigene Schriften« zwischendurch zu vergleichen auch nicht wenig anregend ist. Der Vortrag aus Shakespeare, Offenbach, Nestroy diene dem Sprecher wie den Hörern als Zeitvertreib bis zu dem Tag, wo es jenem belieben wird, sich wegen mehr öffentlicher Äußerungen mit einem aufgeregten Analphabetentum (Mevolution) einzulassen, das doch von Lassalle nicht mehr als das Denkmal kennt und ihn für so groß hält wie dieses. Augenblicklich fehlt zur Produktion außerhalb des Podiums (leider auch zu der Aufgabe, die deutsche Sprache vor dem Deutschtum zu hüten) alle erforderliche Unlust. Was immer aber getan oder unterlassen sein möge — die Gleichschaltung mit der Dummheit wird nicht erfolgen!
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