658. Vorlesung am 08.02.1933

Wien
08.02.1933

[Karl Kraus las im Offenbach-Saal am] 8. Februar:

Timon von Athen 

[Die Fackel 909-911, 05.1935, 2] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...] 

THEATER DER DICHTUNG

(SHAKESPEARE-ZYKLUS)

Timon von Athen

Trauerspiel in 5 Akten von Shakespeare

Nach der Übersetzung von Dorothea Tieck bearbeitet und sprachlich erneuert von Karl Kraus

(Erstaufführung im Berliner Rundfunk am 13. November)

[...]

Pause nach dem dritten Akt

[Anzeige der »Timon«-Bearbeitung]

Programmnotiz vom 6. februar 1932:

»Von dieser Bearbeitung und sprachlichen Erneuerung sind seit dem 20. Oktober 1930 183 Exemplare verkauft worden, von denen 50 vom Berliner Rundfunk als Aufführungsmaterial erworben wurden, 10 von einem Liebhaber, der auch anderen zeigen wollte, wie Shakespeare für die heutige Bühne einzurichten ist, und zirka 15 offenbar der Verwechslung mit Bruckner zu verdanken sind.«

Ein Jahr später ergeben sich 366 Exemplare. Wie sollte demnach der Wunsch solcher, die sie besitzen, in Erfüllung gehen: daß dieser ganze »verkürzte Shakespeare« (gebändigt, nicht gezähmt) im Druck erscheine? Er stellt vermutlich die wichtigste dramaturgische Leistung vor, deren jemals die deutsche Bühne, wenn’s diese gäbe, habhaft werden könnte. Sein Wert ist mit dem Ein-
druck des Hörers zu bemessen, dem »nichts fehlt« und der, wenn ihn die Teilnahme zur Wahrnehmung eines Überschlagens gelangen läßt, des Zusammenschlusses der Bruchstücke sich verwundert. (Und doch hat die Dramaturgie des Worts — mehr als die der Szene — überall den Ausfall von einem Drittel, wenn nicht zwei Fünfteln, bewirkt.) Aber mit dem Druck dieser Fassungen wäre nicht alles getan: zu voller Aufklärung der am Theater beteiligten Menschheit müßte etwa neben die des »Lear« auch noch diejenige gedruckt werden, die ihm durch die Herren Reinhardt und Bassermann widerfuhr. Daß sich die Fachleute für dergleichen nicht interessieren, versteht sich von selbst. Doch zu den stärksten Shakespeareschen Erschütterungen gehört die Apathie, die ihm der empfangende Teil der deutschen Kultur entgegenbringt. Echo aus sozialdemokratischen Kreisen, das den Zyklus begrüßt hat:

Die Zeit hat andere Sorgen
als Shakespeare heute und morgen.

Eben darum haben wir, um im Jargon zu bleiben, es auch so weit gebracht. Und tieferem Nachdenken ergäbe sich: eben darum haben wir die Sorgen. Eine Dramaturgie des Weltgeschehens wäre solchen Zusammenschlusses fähig.

[...]