649. Vorlesung am 06.01.1933

Wien
06.01.1933

[Karl Kraus las im Offenbach-Saal am] 6. Januar:

Shakespeare-Zyklus in der Bearbeitung des Vortragenden

Verlorne Liebesmüh’

(Musik nach Angabe des Vortragenden; Ouverture und Zwischenaktmusik aus »Si j’étais roi« von Adam)

[Die Fackel 909-911, 05.1935, 1] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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THEATER DER DICHTUNG

(SHAKESPEARE-ZYKLUS)

Verlorne Liebesmüh'

(Liebes Leid und Lust)

Lustspiel in fünf Aufzügen von Shakespeare

übersetzt von Wolf Graf Baudissin, Schlegel-Tieck'sche Ausgabe. Mit Benützung der Heinrich Voss'schen Übersetzung bearbeitet vom Vorleser

Musik nach Angabe des Vortragenden; Ouverture und Zwischenaktmusik aus »Si j’étais roi« von Adam: Franz Mittler

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Nach dem zweiten und nach dem dritten Aufzug eine Pause

Goethe in »Wahrheit und Dichtung«, elftes Buch: » … Niemand war vielleicht eben deswegen fähiger als er (Reinhold Lenz), die Ausschweifungen und Auswüchse des Shakespeareschen Genies zu empfinden und nachzubilden .. Er behandelt seinen Autor mit großer Freiheit, ist nichts weniger als knapp und treu, aber er weiß sich die Rüstung oder vielmehr die Possenjacke seines Vorgängers so gut anzupassen, sich seinen Gebärden so humoristisch gleichzustellen, daß er demjenigen, den solche Dinge anmuteten, gewiß Beifall abgewann.

Die Absurditäten der Clowns machten besonders unsere ganze Glückseligkeit, und wir priesen Lenzen als einen begünstigten Menschen, da ihm jenes Epitaphium des von der Prinzessin geschossenen Wildes folgendermaßen gelungen war:

Die schöne Prinzessin schoß und traf
Eines jungen Hirschleins Leben;
Es fiel dahin in schweren Schlaf,
Und wird ein Brätlein geben.
Der Jagdhund boll! — Ein L zu Hirsch,
So wird es denn ein Hirschel;
Doch setzt ein römisch L zu Hirsch,
So macht es funfzig Hirschel.
Ich mache hundert Hirsche draus,
Schreib Hirschell mit zwei LLen.«

So Goethe, der noch berichtet, wie diese Lenz’sche Übertragung von der Straßburger Tischgesellschaft auf einen Rittmeister, der vom Pferde gestürzt war, variiert wurde. Wie unverdient Goethes Anerkennung des nüchternen und den Charakter des Originals völlig verfehlenden Lenz’schen Versuches war, zeigen erst die späteren Übersetzungen. Der Schulmeister Holofernes kündigt das Epitaph mit dem Versprechen an, er wolle »die Alliteration in etwas vorwalten lassen, denn das zeuget von Leichtigkeit«. Die Erfüllung, die Lenz schuldig bleibt, gelingt bei Heinrich Voß wie folgt:

Preis dir, Prinzeß, du pirschtest brav und brachtest prächtig Wildpret;
Ein Spießer sonst, Gespießter nun, gespießt von deinem Spieße.
Hell gellt Gebell; zum Spießer l, ein Spießerl springt vom Wildbett;
Des Spießers Spieß den Spießer spießt; hallali hallt die Wiese;
Dein Spieß spießt funfzig Spießer, willst du L zum Spieß gesellen;
Ein Spießer hundert Spießer wird, fügst du ihm bei zwei LLen.

Zu einem über die Clownerie des alliterierenden Schulmeisters hinausragenden, stellenweise dichterischen Gebilde wird der Scherz bei Baudissin:

Straff spannt die Schöne, schnellt und schießt ein Spießtier
schlank und schmächtig;
Man nannt’ es Spießhirsch, denn am Spieß spießt ihn der
Speisemeister.
Hierauf verspeist mit Gabeln wirds ein Gabelhirsch, so dächt’ ich,
Und weil die Schützin Kronen trägt, mit Recht ein Kronhirsch heißt er.
Hell gellt die Jagd: nehmt vom Gebell zu Hirsch eins von
den L len,
Sinds funfzig Hirschel: noch ein L, so tät sie hundert fällen.

Nathanael sagt dazu: »Wie schmeidig bewegt er der Verse zähen Fuß!«, was er, trotz Goethe, zur Lenz’schen Fassung mit Unrecht gesagt hätte.

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