534. Vorlesung am 01.03.1930

Wien
01.03.1930

[Karl Kraus las im Architektenvereinssaal am] 1. März, ½8 Uhr:

Blaubart

Begleitung: (in Vertretung) Franz Mittler

[Die Fackel 834-837, 05.1930, 21] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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Blaubart

Operette in 3 Akten (4 Bildern) von Jacques Offenbach

Text von Meilhac und Halévy, nach Julius Hopp revidiert von Karl Kraus

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Nach dem 1. und dem 2. Bild eine längere, nach dem 3. eine kurze Pause.

Mit Zeitstrophen im Höflingscouplet des Grafen Oskar

Am Klavier: (in Vertretung) Franz Mittler

Der Vortrag ist als Protest gedacht gegen die Entehrung des Werkes durch eine von berlinerischem Reißertum und neu-wienerischem Dilettantismus ausgerüstete Truppe, deren Treiben der Vortragende schaudernd mitangesehen hat; gegen die Entehrung eines Raumes, aus dessen Soffitten die Geister einer abgeschiedenen Theaterwelt zum üblen und schlechten Geschäft der Marischka und Rotter ein Lachen der Schadenfreude anstimmten. Jeder Ton, jedes Wort: Motiv zur Absage einer zivilisierteren Menschheit an diesen deutsch-österreichischen Kulturbegriff. Der Vortragende, der Laut für Laut wie kein anderer spürt, was da geschehen ist, bekennt, daß das geliebte Werk, hätte er es in dieser Gestalt kennen gelernt, ihn niemals mit der Welt Offenbachs verbunden hätte. Gäbe es in Wien noch ein Theatergedächtnis und hätten Publikum und Kritik eine Beziehung zu den Werten, die da besudelt wurden, so wäre schon im Anfang, als zum vorverlegten Kußwalzer gehopst wurde, dann zu allen Ödigkeiten dieser Komiker und vollends zur Auferstehung der Gruftgirls ein Skandal losgebrochen, und strammer, als der Taktstock die Grazien hinausgepeitscht hatte, wäre die Berliner Offensive gegen Offenbach und gegen das alte Theater an der Wien abgewiesen worden, das von Rott zu Rotter gelangt ist. Die Neue Freie Presse begnügt sich mit der Anspielung, wie unbefugt solche Modernisierung und Aktualisierung des »Blaubart«-Buches sei:

Dies dürfte nur ein wirklich geistreicher Kopf unternehmen .... Wenn man sich einen derartigen Bearbeiter nicht leisten kann oder will, dann ist es schon besser, zumindest für Wien, die Offenbach-Bücher in der gemütlichen wienerischen Fassung von Hopp zu belassen.

Man wollte schon, aber man kann nicht, weil eben der Bearbeiter sich nicht »leisten« läßt. Man bleibe bei Lehar, beziehungsweise Brammer und Grünwald. Es wurde das Greuel der Pohl’schen Übersetzung verwendet, aber Hopp im Munde dieser Komiker wäre nicht weniger unerträglich gewesen. (Herrn Slezaks Humor war zum Glück nicht vorhanden, aber was ein tüchtiger Sängersmann aus dem Auftritt des Blaubart und insbesondere aus dem Lamento machen kann, hat man erschüttert bemerkt.) In einem einzigen Blatt, ausgerechnet in den vom christlich-germanischen Schönheitsideal und von der Polizei inspirierten ‚Wiener Neuesten Nachrichten‘, wurde etwas wie eine Frontalabweisung des Unfugs versucht und sogar ein Protest dagegen, daß er sich in einer Stadt zutragen konnte, der nicht nur einst die Offenbach-Tradition, sondern jetzt die Offenbach-Renaissance entstammt ist:

Man beliebt es Offenbach-Renaissance zu nennen: in Wirklichkeit ist es ahnungsloses Hineintappen in eine Welt, von der man nichts anderes erfaßt hat als ihre Brauchbarkeit zu geschäftstüchtiger Ausschrotung. Mit der zeitgenössischen Operettenproduktion ist nicht viel anzufangen. Das haben die Theaterdirektoren erkannt und klagen darüber, beispielsweise auch in einer Festschrift, die das Berliner Metropoltheater anläßlich der Erstaufführung seiner Blaubart-Bearbeitung herausgegeben hat. Die moderne Operette (so formuliert es die Festschrift in einem Paradigma von apartem Reiz) »steht nur noch auf zwei Augen, denen von Franz Lehar«. Sollte er sie einmal schließen, so wäre vollends der Boden verloren. Also wendet man sich Vergangenem zu, versucht es mit Offenbach, versteckt dem Hinweis desjenigen folgend, der als erster die innere
Aktualität des Offenbachschen Werkes erkannt hat, der als einziger Geist und Kraft besitzt, Offenbachsche Welten lebendig und erneuert, ganz in ihrem eigensten Wesen erfaßt vor uns hinstellen zu können. Was Karl Kraus gelingt, ist wirkliche Offenbach-Renaissance(wenn schon dieses mißverständliche Schlagwort verwendet werden soll); in seinen Vorlesungen erstehen Libretti und Musik in ihrer ganzen geistigen Schärfe, in ihrem transzendenten Sarkasmus, der viel von »Nietzsche-Bosheit« in sich hat. Was das Berliner Metropoltheater auf die Bühne bringt, ist nicht einmal ein Mißverständnis. Man hat sich des Offenbachschen »Blaubart« bemächtigt, ihn her- und hingerichtet, ahnungslos und stümperhaft. Fast scheint es ja begreiflich zu sein: wie sollen auch jene modernen handfesten Theaterpraktiker so ohne weiteres zu Offenbach finden, wie sollen sie die Reize dieser Handlungen, dieser Musik verstehen können. Sie versuchen eine Angleichung an den Zeitgeschmack, will sagen, sie mischen einige Revue-Ingredienzien und einige Tränklein aus der Sphäre jener Operette, die »nur mehr auf den Augen Franz Lehars steht«, hinzu, bereichern den Dialog und die Gesangsstrophen durch verhatschte zeitgemäße Anspielungen und meinen, das sei jetzt der neue, unser Offenbach. Oder sie schürfen tiefer und finden (wie es der Kommentator in der schon erwähnten Festschrift tut), daß »Blaubart« seiner Grundidee nach eigentlich eine »pazifistische Oper« sei … Solcher erquickend albernen Entdeckung kann nur homerisches, nein offenbachsches Gelächter antworten. — — Von Offenbachschem Esprit auch nicht die Spur; es geht ernst, gemessen und sehr organisiert zu. Blaubarts Hoffnung war auch die unsere: »Laßt uns aus dem düstern Grabe aufwärts schweben, aufwärts schweben, daß in frischer Luft uns labe neues Leben, neues Leben …«

W. J.

Und das alles, weil die Gebrüder Rotter einem Berliner Vortrag des »Blaubart« beigewohnt hatten. Zur Rede gestellt, sollen sie geäußert haben, sie hätten doch ganz in meinem Sinne gehandelt. Einer der stärksten praktischen Mißerfolge, die ich jemals erzielt habe, ist nebst Schobers Aufstieg die Offenbach-Renaissance. Und man versuche sich vorzustellen, daß zu diesen Klängen, im Höflingscouplet, eine Strophe dem Dank an den Erneuerer Österreichs gewidmet war. »Das ist mein Sonntag!« pflegte Altenberg auszurufen.

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