[Karl Kraus las im Mozarteum um] ½8 Uhr 28. Mai:
Die Briganten.
[Die Fackel 811-819, 08.1929, 42] - zitiert nach Austrian Academy Corpus
Programmzettel
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Die Briganten
Operette in drei Akten von Offenbach
Text von Meihac und Halévy, nach der Übersetzung von Richard Genée erneuert von Karl Kraus
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Die Gestaltungen der geistigen Welt Offenbachs müssen und wollen den Anspruch auf eine musikalische Interpretation im streng technischen Sinne unerfüllt lassen. Die Wiedergabe erfolgt ohne Kenntnis der Notenschrift.
‚Sozialdemokrat‘, Zentralorgan der Deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik, 22. Mai:
Karl Kraus liest Offenbach.
Daß unsere Bühnen Offenbach nicht spielen können — hätte man es nie gefühlt in einer Welt, der jede Ahnung wirklichen Theaters fehlt —, man hätte es empfunden, als Karl Kraus durch die Magie seines Wortes die Märchenwelt Offenbachs für drei köstliche Stunden in ihrer ganzen berückenden Heiterkeit erstehen ließ. Die Theater spielen Offenbachs Wunderwerke, die aus dem Geiste einer begnadeten Musik und einer kongenialen Wortkunst geboren sind, als grobe, auf szenische Effekte ausgehende Tanzoperetten, denen man den Schmelz der Dichtung nicht mehr anmerkt, oder sie stellen jene unerträglichen Opernbesetzungen, in denen Koloraturen und Bravourarien produzierende, aber im übrigen stocksteife Marionetten vergebens bemüht sind, die Atmosphäre göttlicher Leichtigkeit und von aller Erdenschwere gelöster Märchenstimmung anzudeuten, die den Reiz Offenbachscher Kunst ausmacht. — — Das Phänomen dieser Stimme und der einzigartigen Sprechkunst wiegen schwerer als die technisch gefeilte Leistung der Tenöre und Soprane, deren Illusion uns aus der einen Kehle schöner ersteht, als die realen Stimmen sie zu zeugen wüßten. Es wäre müßig, den Eindruck der Erweckung Offenbachs durch die Kunst Karl Kraus’ schildern, der Stimmung, die Hunderte mit der Gewalt des künstlerischen Erlebnisses erfaßte, Ausdruck verleihen zu wollen. Die es hörten und erlebten, können es nicht in Worte fassen, den anderen, denen es versagt war, Zeugen und Miterlebende zu sein, sagt der Bericht nicht, was sie verloren haben.
Das von echtem Enthusiasmus erfüllte Publikum wurde nicht müde, seinem Beifall Ausdruck zu verleihen und den Dichter der herrlichen Zusatzstrophen wie den Interpreten Offenbachs zu feiern. E. F.
‚Arbeiter-Zeitung‘, Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs, 23. Dezember, aus der »Auseinandersetzung mit Karl Kraus«:
Nichtbeachtung der Offenbach-Vorlesungen.
Darüber sagt Kraus, »daß die Arbeiter-Zeitung, die dem letzten bürgerlichen Operettenmist ihre erstaunliche Kunstrubrik offenhält, sein Wirken für Offenbach, das Kulturwerk seiner ganzen Vortragstätigkeit, ja seine besonderen Vorlesungen für Arbeiter mit keinem Ton beachtet«.
(Das hat Kraus nicht gesagt, sondern: daß es ihm sein Leben lang, also in der Zeit, da Herr Schober im Amte sitzt, nicht einfallen würde, darüber Beschwerde zu führen, daß u. s. w.)
Aber wenn wir über die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Wiederbelebung der Offenbach-Operetten anders dächten? Wenn wir meinten, daß diese Kunst aus dem Geiste des dritten Kaiserreiches verklungen und vertan sei? Sicherlich wäre es, wenn ein Künstler wie Kraus an diese alten Operetten so viel Leidenschaft und Begeisterung wendet, unziemlich, ja anmaßend, sich da mit einer andern Meinung auftun zu wollen, aber Kraus versteht doch unter »Beachten« nicht eine Kritik, sondern ein unbedingtes Mittun; aber dabei wird doch wohl auch die eigene Meinung ihre Berechtigung haben. — —
Sagt die Arbeiter-Zeitung, die dem letzten bürgerlichen Operettenmist ihre erstaunliche Kunstrubrik offenhält. Wann hat sich die eigene Meinung gebildet, die, weil ich unbedingtes Mittun verlange,bescheiden vorgezogen hat, nicht zum Ausdruck zu kommen? Wer sind »wir«, die da heimlich bei »Blaubart«, »Großherzogin von Gerolstein«, »Pariser Leben«, »Madame l’Archiduc« und insbesondere bei den »Briganten« zugegen waren und sich achselzuckend abwenden mußten? Sind wir eine Redaktionskonferenz, die von vornherein zu dem Schlusse kam: »Was? Der will Offenbach wiederbeleben? Da tun wir nicht mit!« Wir denken anders? Aber vermutlich haben wir unter den anderen Sorgen, die wir haben, bisher keine anderen Gedanken, überhaupt keine bestimmten Gedanken über Offenbach gehabt, und — Hand aufs Herz, das wir doch auch haben — unser anti- musikalisches Ohr dürfte von ihm nebst dem Hörensagen, er sei der Musiker, zu dessen Kankan einst die Bourgeoisie tanzte, unmittelbar nichts als den Orpheus und die Schöne Helena empfangen, aber keineswegs behalten haben. Über die »Notwendigkeit« seiner Wiederbelebung — wiewohl in seinem Tanz auch der Vulkan inbegriffen war und ist — mag man sein Vorurteil haben; die »Möglichkeit« sollte nur der bestreiten, der sich schon von der Unmöglichkeit überzeugt hat. Ich — der es sein Lebtag zu keinem »Wir« gebracht hat — vermute jedoch, daß hier die journalistische Bereitschaft, die Unterlassungen der Lethargie und des wirkenden Schlieferltums nachträglich als Kunst- und Kulturansicht zu interpretieren, mit einem Federstrich eine Welt revolutionären Kunstbesitzes preisgegeben hat, wie in andern Punkten die Werte und Sachverhalte des Kampfes und der Ehre von Mitkämpfern. Und der Schutz dessen, wofür ich stehe und wofür ich danke, geht mir vor dem Lob dessen, was ich kann und was ich bin! Die Wiederbelebung Offenbachs vollzieht sich, auch ohne mein Wirken, kraft des Umstandes, daß er nicht gestorben ist, und keine Macht der Parteien könnte sich ihr widersetzen, mögen sie auch die Feindlichkeit einer Satire, die den Hohlraum der Gravität durchblitzt, mit noch so sicherem Instinkt herausspüren. Die textliche Erneuerung der »Briganten«, ein Werk der Kunst und des Kampfes, wäre für eine Kunstpolitik, die ihre Trägheit nicht als Standpunkt proklamiert, die Grundlage zu einer Volksbühne. Was mit dem französischen Kaiserreich verklungen und vertan ist, würde den Mächten der österreichischen Republik noch furchtbar lebendig klingen — uns Untertanen zum Entzücken!
Der Offenbach-Biograph Louis Schneider (Perrin et Cie, Paris 1923) schreibt:
Il est bien difficile de décider si les Brigands sont supérieurs à une autre œuvre des mêmes auteurs. Ce qui est sûr c’est que la pièce et la musique se marient à souhait, c’est que jamais partition n’avait été plus variée, jamais livret n’avait été plus fin, plus ironique et au fond plus vrai. Des mots comme celui du caissier [Finanzminister] du duc de Mantoue, qui a volé trois millions à son gouvernement: »Il faut voler selon la position qu’on occupe dans le monde« avaient non seulement déchaîné un rire formidable, mais on désignait par des noms propres le caissier en question .... ce caissier est la trouvaille de la pièce ....
Nach einer etwas fehlerhaften Inhaltsangabe hebt er die Musikstücke hervor:
Le chœur d’entrée des brigands, le dialogue »Bon ermite où nous conduis-tu?« (»O heil’ger Eremit, sag an«), la chanson de Falsacappa »Quel est celui qui par les plaines (»Wer ist es, der durch Wald und Fluren«) et les couplets, à la plaisante modulation, de Fiorella »Au chapeau je porte une aigrette« (»Die treue Büchse stets zur Seite«) sont les pages les plus délicieuses du premier acte; au deuxième acte, le chœur en canon »Soyez pitoyables et donnez-nous du pain« (»Hör uns flehn voll Zagen um ein Stückchen Brot«), le duo de Fiorella et de Fragoletto: le petit duo du notaire (»Mein Herr Notar, mein Herr Notar«), et bien d’autres morceaux encore, tels que l’air du caissier au troisième acte »Hélas! j’ai mangé la grenouille« (»Sagt mir ein Weib, daß es mich liebe«) sont restés dans toutes les mémoires.
Und er hat nicht einmal die merkwürdigsten genannt. Zwar der Kettengesang der als Bettler verkleideten Räuber, der vom parodischen Kanon bis zum Pathos der Marseillaise hinaufführt, ist ein selbst bei Offenbach verblüffender Genieeinfall; das Entree des Falsacappa von einer Schlagkraft, die das Auftreten des Bumbum und des Erzherzogs übertrifft. Aber da fehlen noch: das ent- zückende Spottlied der Fiorella, die als Wegweiserin den ratlosen Prinzen, der sich an ihr zurechtfindet, wegweisen muß (»Erst zur Rechten, dann zur Linken«); die Lieder des Fragoletto: von der gegenseitigen Plünderung (»Als kürzlich du besuchtest mich«) und vom Kabinettskurier (»Falsacappa, sieh meine Beute«); die »verwickelte Affaire« und die Angelobung als Räuber; die spanischen Motive (»Granada, das ganz Spanien preiset« und »Habt bisher Ihr immer besessen«); das Lied des Prinzen im Kreise der Hofdamen (»Einst herrscht’ in fernen Landen«); das einzigartige Gemenge der Räuber- und Höflingschöre; und vieles noch, und in jedem Klang das berückend bitter-süße Doppelwesen. Aber zwei Stücke gibt es, die alles Offenbachische überbieten. Das Auftreten des Präfekten an der Spitze der über die Bühne schreitenden Polizisten, mit deren Erscheinen und Verschwinden immer das der Briganten abwechselt. Nach deren Aviso: »Die großen Stiefel, sie trappen, sie trappen, sie trappen …« jene mit ihrem: »Respekt, jetzt kommt Polizei!« (die »immer zu spät herbei« kommt). Der Biograph erwähnt diesen Auftritt — Offenbachs größtes Finale — nur in einem Zusammenhang mit dem Malheur des großen Schauspielers Baron, der bei dem Motiv
Nous sommes les carabiniers,
La securité des foyers;
Mais je ne sais par quel hasard,
Au secours les particuliers,
Nous arrivons toujours trop tard
zu spät einsetzte und es dann zu einem sieghaften Extempore in Prosa verwandte.
.. sa voix de tonnerre enrhumé était si comique qu’on l’applaudit furieusement …
Eben diese Stimme gehört zu dieser Gestalt. Es dürfte aber wohl erst in der neuen textlichen Anwendung der ganze grandiose Hohn dieses Marsches hervorkommen, der heute etwas von einem Kondukt von Leichen hat, über die er schreitet: förmlich durch den Hohlraum hindurch, der entsteht, wenn dieses Gepränge einer subalternen Wichtigkeit nur auftaucht. Ein Operettenalba, der nichts als Schrecken und Heiterkeit um sich verbreitet. In schicksalhafter Zusammenschließung künstlerischer und polemi-
scher Mission mußte ich diesen Griff tun, ein Werk zu finden, dessen unvergleichliche Einheit in Text und Tönen wie von selbst allen Zeitgehalt aufnahm. Das Staunen über die Aktualität mag sich aber mit der Erkenntnis beruhigen, daß alles, was in der satirischen Landschaft zwischen Polizisten und Briganten spielt, veraltet war, bevor es neu wurde, und das Ereignis besteht nur darin, daß die Wirklichkeit, die heutige Hiesigkeit, ihren Vollgehalt an ältester Komik frisch ausleben kann. So bleibt es keineswegs dabei, daß die Gestalten, die sie bevölkern, lächerlich sind. Denn diese Wirkung ist durchwirkt von dem Grauen, daß sie so lächerlich sind, keine Ahnung von ihrer Lächerlichkeit zu haben. Eben dieses Unsagbare sagt Offenbach und eben dieser Zustand ist es, was heute nach ihm verlangt. Bald glaubt man konturhaft der Umformung eines Lebens von Schönpflug-Gestalten ins Daumierartige beizu- wohnen; bald hört man diese Musik mit einer Deutlichkeit der Expression alles zur Sprache bringen, was die Sprache selbst kaum mehr bewältigt hätte. Auch losgelöst von einem Text, der bloß nirgendwo solchen Ausdruck belasten durfte, vermittelt uns diese Rhythmik die schmerzhafte Vergewisserung von Lebensformen und die Entschädigung, sie in ihren eigenen Wahnwitz aufgelöst zu sehen. Voll und ganz. Gespensterhafteres wäre nicht vorstellbar als diese Vertonung des Zeremoniells — hier aus dem Spanischen ins Österreichische greifend — durch das Duo, mit dem im zweiten Akt, vom Gefolge gardiert, der Zeremonienmeister und der Präfekt auftreten. Auch ohne Text, ohne dessen Auffüllung, wäre diese Tongebärdung von Automaten der reinste Ausdruck alles dessen, was man aus dem Bereich der klischierten Phrase ins Bewußtsein übernommen hat: das Um und Auf von Lebensäußerung der Träger einer grundlosen Würde, derer, die da sind, um da zu sein, die kein Umsturz entfernen könnte und die gemäß dem Urmotiv der österreichischen Offizialwelt — à la »Spielvogel und Zawadil« — nur paarweise auftreten können. Man achte auf die Übereinstimmung, wie in dieser Szene eines Werkes, dessen Schatz mir erst nach den »Unüberwindlichen« erschlossen wurde, der Präfekt durch Wiederholung der jeweils letzten Zeile das Einverständnis mit dem Partner bekundet. Doch wie »Wolkenkuckucksheim« die Sublimierung der »Letzten Tage der Menschheit« in eine luftigere Region bildet, so mußte der Polizeikrieg aus dem Nachkriegsdrama in die »Briganten« übergehen. Nie sind Spott und Schauder derart musikalisch verdichtet worden, und ich glaube, daß mit diesen Motiven — des Marschierens und des Repräsentierens — wie mit allem, was sich textlich wie von selbst, gleichsam pflichtgemäß ergab, eine Gestalt, der in ihrer Funktion bisher nur die Lebenslänglichkeit garantiert war, definitiv von der Tagesordnung in die Unsterblichkeit eingeschritten ist. Lächerlichkeit kann zwar nicht mehr töten, aber sie kann auch nicht vor dem Schicksal retten, daß eben dieser Zustand aufgezeichnet wird. Alles was hier bloß darum fortlebt, weil es nicht untergehen kann, ist in einer Offenbachschen Tonfigur längst enthalten. Er war seiner Zeit voran, welcher er darum bloß einen flüchtigen Reiz zurückließ, und die, in die er eingreift, überlebt seine Wirkung nur, weil sie so geartet ist, ihn nicht mehr hören zu können. Es berührt gleich einem Wunder, daß die Grazie aus der französischen Luft der Sechzigerjahre wie ätzendes Gift wirkt, eigens für das Neuösterreichische erfunden. Dagegen schützt keine Ablehnung, und der Widerstand des christlich-germanischen Schönheitsideals, der sich sofort regt, wenn der Name Offenbach nur genannt wird, beweist die Wirkung. Unfehlbar spürt der Troglodyt den Geist, besser als der Weltkommis, der andere Sorgen hat. Wenn diesem nicht bis dahin alles Organische erlegen ist, wird sich zu der Trauer, daß Shakespeare auf dem Theater ausgespielt hat, der Trost gesellen, daß mit Offenbach ein neues Zauberreich erschlossen werden könnte. Alles, was der neuen Groteskoper einfällt, kommt von ihm, und es fehlt nur noch das Theater, das Mut zu ihm selbst hat, ohne ihm die Gewalt der schäbigen Zeitmittel anzutun. Seine Lebensfähigkeit steht außer Zweifel: Österreich bekreuzigt sich vor ihm.
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