477. Vorlesung am 01.01.1929

Wien
01.01.1929

[Karl Kraus las im Mittleren Konzerthaussaal am] 1. Januar 1929, ¼8 Uhr:

Aus Redaktion und Irrenhaus oder Eine Riesenblamage des Karl Kraus.

[Die Fackel 800-805, 02.1929, 64] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...]

Aus Redaktion und Irrenhaus

oder

Eine Riesenblamage des Karl Kraus

I

Mein Monolog / Irrsinn und Norm / Flucht ins Irreguläre, Traum, Operette / Hainisch und Bella / Die Juxbrüder / Otto Borger und der Grubenhund / Die Publikation der Europe Nouvelle / Liebhaber deutscher Lyrik in Afrika / Zwischen Czernowitz, Marokko, Paris und Berlin

II

Le génie de ce fou et la platitude des Poètes raisonnables que fêtent le Viennois / ...Schreibt der Pester Lloyd... / "Einen Trunk der Liebe": Paul Zech, Verlaine, Ernst Hardt / "Junge Tänzerin" / Etsch, ich bin der Dichter! Was sagst du jetzt? / Psychologie und Sprachkritik / Matthias Marx und Michael Gesell / Ich klammere mich an Karl Kraus und verlange, daß er sein Urteil aufrecht erhält / Die große und die zarte Glockenblume / Da kann ich Ihnen diesbezüglich etwas sehr Hübsches mitteilen

III

Das Wort "goste" / Beispiele aus Nietzsche und Goethe / "Glockentänzerin" von Zech / Wenn Karl Kraus der wäre, der er sein möchte / Otto Ernst Hesse und die Pseudonyme / Mangelnde Widerstandsfähigkeit des Ariers / Die Zypresse, die Olive... / Hainisch und die Unendlichkeit / "Traum und Stille" von Zech / Die Autorschaft Friedrich Theodor Vischers / "Frühling" von Karl Graf Berlepsch / Neue Berliner Sensation / Der Umweg durch Wüste und Irrenhaus / Wie geht das Weihnachtsgeschäft?

[...]

Die Zuwendungen aus den Erträgnissen werden in der Fackel ausgewiesen

Nr. 314 Wien, Sonntag Arbeiter-Zeitung 11. November 1928 Seite 25

Bekenntnis zum Tage:

Heute, da jeder von uns für einen Augenblick innehält, um den großen Gedanken des Tages zu erfassen, sei auch mir vergönnt, abseits vom Getriebe des Alltags, über Sinn und Ziel meiner Arbeit zu sprechen.

Zu allen Zeiten stand im Mittelpunkt der Welt: die Frau. Direkt und indirekt entscheidet sie in allen Fragen des Mannes, seiner Arbeit, seines Strebens.

Erfüllung ihrer Wünsche heißt deshalb, ein Herz erfreuen, das alles Glück verzehnfacht widerstrahlt — als Mutter und als Frau. Somit ist aller Dienst an ihr ein Dienst an der Familie, an Menschheit und Nation.

Pariser Modeschöpfungen — jahrzehntelang alleiniger Besitz der reichen Frau — so sehr verbilligen, bis sie den Alltag jeder Frau verschönern können, schien mir der Arbeit bester Jahre wert.

Der große Umsatz — dank bescheidener Gewinne — ergab sehr bald die Möglichkeit, Werkstätten zu vergrößern, ein neues, großes »Haus der Frau« zu bauen und Tausenden von Menschen Broterwerb zu bieten.

Ein reicher, rauschender Erfolg war Wiens und seiner Frauen Antwort. Man hatte mich verstanden.

Für diese Antwort bleibe ich mit meinem ganzen Können im Dienst der Wienerstadt, als Mittler zwischen Soll und Haben im Wirtschaftsbuch der Frau.

Julius Krupnik

Bekenntnisse zum Tage:

S. 14

Heute, Goldener Sonntag, rücksichtslos reduzierte Preise!
Bei Krupnik kaufen — heißt alle Ihre Wünsche erfüllen!

S. 7:

Auseinandersetzung mit Karl Kraus.

Wenden!

‚Sozialdemokrat‘, Zentralorgan der Deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik, Sonntag, 20. Mai 1928:

Karl Kraus in Prag.

Als Karl Kraus das letztemal in Prag am Vortragstisch erschien, hatte der Kampf gegen Bekessy und gegen die Verpestung Wiens seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. In die drei Jahre, die seither verstrichen sind, fällt die Austreibung des Bekessy, fallen der 15. Juli und die Abrechnung mit Schober. Dem Kämpfer Karl Kraus war keine Rast gegönnt, unerschöpflich ist das Grauen einer entmenschten Zeit an Motiven, die nach satirischer
Gestaltung verlangen, und an Symptomen des Unter- gangs, die der titanische Chronist der letzten Tage der Menschheit allein erfassen und buchen kann. In diese drei Jahre fielen aber auch bedauerliche und unerquickliche Angriffe gegen Karl Kraus aus den sozialistischen Reihen. Wie ungebührlich und kleinlich diese Polemik war, wurde durch all das erwiesen, was seither geschah. Oder soll man mitten in dem Kampfe, den Karl
Kraus gegen Schober führt, den papierenen Beweis dafür antreten, daß zu revolutionärer Gesinnung des Ethikers und des Dichters nicht unbedingt ein Parteibuch gehört?

Aber es sei, da wir Karl Kraus seit langem wieder bei uns begrüßen können, der Mission gedacht, die er nicht nur im Kampfe gegen die gewalttätigen Beherrscher des bürgerlichen Staates, die er als Kämpfer gegen den bürgerlichen Geist und in besonderem Maße dort, wo bürgerlicher Geist Sozialisten erfaßt hat, seit Jahren erfüllt und die von vielen seiner Verehrer ebenso mißverstanden wurde, wie sie gewissen Apostaten immer unverständlich bleiben wird.

Im Zeichen der kapitalistischen Verwandlung der Welt vollzieht sich ein Kulturverfall, dessengleichen die Geschichte nicht kennt. Er ist gleichermaßen bedingt durch die wachsende Käuflichkeit der geistigen Arbeit, die zur Ware geworden ist und wie ein Börsenpapier auf dem Markte gehandelt wird, und durch die Mechanisierung aller menschlichen Tätigkeit, die auch die Kunst mit der Technik verschwistert und künstlerische Fertigartikel, Zwitter aus Menschenwerk und Maschinenarbeit, den ganzen Pofel einer reklamewütigen Kulturfabrik wohlfeil und massenhaft auf den Markt wirft. Den fragwürdigen Wert dieser zivilisatorischen Standardleistungen hat Karl Kraus als einer der ersten, hat er am tiefsten erkannt und am entschiedensten bekämpft. Er war, als alle Werte umgewertet wurden, der »wahren Werte Bewahrer«, er wurde, als alle ethischen Maße sich verrückten, der Künder einer absoluten Ethik der Menschlichkeit, er ist der kompromißlose Kämpfer geblieben, als die Gesinnung zur Ware wurde. Seinem Kampfe gegen den Auswurf der bürgerlichen Zivilisation, gegen Journaille und verkommenes Literatentum, danken wir die Erkenntnis, daß die Kultur des Sozialismus nicht in der Fortsetzung, sondern in der Verneinung dessen, was die Jahrzehnte des bürgerlichen Verfalls an »Kultur« aufgehäuft haben, ihren Sinn finden muß. Es ist der
lächerlichste Einwand, den subalterne Nachbeter bürgerlicher Fortschrittsdogmen gegen Karl Kraus erheben konnten, er sei einmal konservativ gewesen. Er war es und ist es noch heute im besten Sinne, als Bewahrer dessen, was vor der bürgerlichen Entartung der Menschheit das Leben lebenswert machte, als der Erzfeind des Bourgeois, der ein unverjährbares Heimatsrecht in den großen Jahrhunderten einer versunkenen und vergessenen Kultur und in den überzeitlichen Regionen der ewigen Werte des Guten und Schönen besitzt und eben darum schon den kommenden Geschlechtern zugehört, allem Großen, was war und was sein wird, dem Geiste der Grüfte und dem Geiste der Ungeborenen verbunden, nur nicht der entzauberten Welt der Maschine und des Kommerzes. Nicht weil sie ihm zu konservativ waren, verachtete er die Träger der alten Macht, sondern weil sie, ihrer Pflicht zu konservativer, wertbewahrender Gesinnung nicht genügend, die alte Form mit dem schmutzigen Inhalt der neuen Ordnung füllten. So kann er von sich sagen: »‚Konservativer‘ als einer — wenn jene, die zwischen meinen Widersprüchen schwanken, einmal sicher gehen wollen —, als alle, die in Staat und Gesellschaft, Kirche und Presse zur Betätigung dieser Ansicht berufen waren, sie alle hundertmal verdammend um den Lippendienst für Ornamente, deren geistigen Inhalt sie längst an die Gegenwelt verraten hatten, habe ich an nichts mehr gelitten als an dieser Identität von Zeit- und Ortselend mit einer ausgeleerten Hülse von Majestät«.

Als nach dem Aufstieg der Arbeiterklasse die liberale Welt ihre Parlamentäre entsandte und bereit war, der Nutznießer der Revolution zu werden, war Karl Kraus vor allen berufen, diesem Versuche mit der Kraft des alten Hasses zu begegnen. Und hier offenbart sich der Unterschied zwischen denen, die Karl Kraus wirklich verstanden und ihn um seiner antibürgerlichen Gesinnung nicht minder als um seiner Kunst willen liebten, und jenen, die in ihm nur einen willkommenen Bundesgenossen gegen die Gespenster der Vergangenheit sahen. Hofften wir vom ersten Augenblick an, da Bekessy (der doch wohl der Repräsentant, ja geradezu die Inkarnation der ganzen Rotte Korah ist) uns die Schmach einer »linken« Pressegründung antat, deren Gesicht die Fratze der Nachkriegshyäne am scheußlichsten zeigte, lange bevor die Erpressung in jeder Zeile evident war: daß Karl Kraus der Schlange den Kopf zertreten, daß die Fackel die Pestbeule ausbrennen werde, so war es eben nun den anderen unverständlich, daß er es tat, und unerwünscht, daß er an die konservative Gesinnung des Sozialisten appellierte. Bekessy wird schon recht haben, wenn er in seiner jüngsten Konfession und in den Epistolae virorum obscurorum, die jene in bunter Folge enthält, behaupten läßt, nicht so sehr seine Erpressertätigkeit als die bloße Existenz seiner neuartigen Schöpfungen habe Karl Kraus und Austerlitz zum Kampfe herausgefordert. Man bedarf ja wahrlich nicht des gerichtlichen Nachweises einer Verfehlung Bekessys nach § 98 b. Str. Ges., um als Sozialist die neue Journaille des Bekessy als eine nachträgliche Rechtfertigung aller Untaten der alten des Benedikt anzusehen, als eine Landplage und Pest, die um so mehr zu fürchten war, je offener sie versuchte, uns zu »schonen«.

Es war bei jedem Feldzug, den Karl Kraus führte, nicht anders als bei diesem. — —

Wo immer sich geschäftstüchtige Raffer, Phraseure, Possenreißer und ähnliches intellektuelles, im Geiste verkommenes Lumpenproletariat an die revolutionäre Sache, Erzbürger an die bürgerfeindliche Welt des Sozialismus anbiedern und durch den Schein zu blenden suchen, demaskiert sie Karl Kraus. Von Großmann bis Bekessy, von Kerr zu Piscator reicht die Reihe der Opfer einer Satire, die darum so revolutionär ist, weil sie auch den Mut zur Bejahung der alten Werte und den größeren zur Verneinung der kursierenden Scheinwerte besitzt. Und darum ist uns, solange Karl Kraus mit der Fackel seines durchdringenden Geistes den Weg durch die Nacht des tiefsten Grauens, das die Menschheit je erlebte, erleuchtet, nicht bange um die Brücken zu neuen Ufern.

*

Karl Kraus las gestern zum erstenmal in Prag Offenbach und begeisterte das Publikum, dem solche Kunst neue Sphären erschloß. Der künstlerischen Bedeutung der Gestaltung Offenbachs durch Karl Kraus soll noch besonders gedacht werden.

Emil Franzel.

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