282. Vorlesung am 16.12.1923

Wien
16.12.1923

[Karl Kraus las im Neuen Saal der Hofburg am] 16. Dezember, 3 Uhr:

(Veranstaltung der Kunststelle der deutschösterreichischen Sozialdemokratie)

Eine Wohnung zu vermieten in der Stadt, Eine Wohnung zu vermieten in der Vorstadt, Eine Wohnung mit Garten zu haben in Hietzing. Posse mit Gesang in drei Akten von Johann Nestroy. Musik von Viktor Junk. Zum Entree »Ja, Spaziergäng’ zu machen, das ist eine Pracht, wenn man so den stillen Beobachter macht«, zum Couplet »Da ließ’ sich viel sag’n« und zum Schlußgesang von den Parteien die bekannten und neue Zusatzstrophen.

Programmnotiz wie bei den früheren Vorlesungen des Werkes.

Der volle Ertrag (inkl. Programmerlös): K 6,194.360 für Notleidende und die Weihnachtsbescherung für die Kinder des Blindenerziehungsinstitutes (II. Wittelsbachstraße 5).

[Die Fackel 640-648, 01.1924, 111-112] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...]

Eine Wohnung

zu vermieten in der Stadt,

Eine Wohnung zu vermieten

in der Vorstadt,

Eine Wohnung mit Garten

zu haben in Hietzing

Posse mit Gesang in drei Akten

Musik von Viktor Junk

[...]

Begleitung: Viktor Junk

Zwei Pausen.

Wenn je eines dramatischen Autors Mißerfolge gegen das zeitgenössische Publikum und die zeitgenössische Kritik gezeugt haben, so die Nestroys. Seine blendendsten und tiefsten Worte, seine lebendigsten Szenen stehen in seinen durchgefallensten und verschollensten Stücken. Die Kritik jener Zeit, von vorbildlich korrupten Interessenten geführt, hatte das Publikum so in der Hand, daß sie ein entzückendes Genrebild wie diese Posse durch giftige Ausstreuungen zu Falle bringen und indem sie den Gipfel der Frechheit und Albernheit erklomm, bewirken konnte, daß es nach drei Aufführungen für immer von der Bühne verschwand. Und doch hätten Generationen von Lokalautoren von dem Reichtum in Situation und Dialog leben können und haben es wohl auch getan. Freilich mochte es für ein zeitgenössisches Publikum keine Verlockung sein, sich in den vormärzlichen Typen wie in dieser Familie Gundelhuber wiederzuerkennen, während die Gegenwart, soweit ihr das Werk zugänglich gemacht werden könnte, den kulturhistorischen Reiz dazugewinnt. Fast in keinem andern hat Nestroy bei allem geistigen Eigenwert des Dialogs ihn so der Charakterisierung des fast volksstückhaft verwendeten Milieus sich fügen lassen. Die Gestalt des Herrn von Gundelhuber, offenbar die Scholzische Rolle, ist in ihrer breitspurigen Dummheit eine der besten, die er geschaffen hat, der liebes- und auch sonst trunkene Hausmeister Cajetan — mit einem erotischen Lied von Wedekind’scher Peitschenschärfe — eine der stärksten Nestroy-Partien. — Die Erstaufführung hat am 17. Januar 1837 zu Nestroys Benefiz stattgefunden, und das Publikum hat ihm dabei übel mitgespielt.

Der volle Ertrag fließt der Weihnachtsbescherung für die Kinder des Blindenerziehungsinstitutes (II. Wittelsbachstraße 5) und Notleidenden zu.

[...]